FARBE.SEHEN.FARBGESCHEHEN.
von Silvio Blatter (Schriftsteller und Maler)
Haben Farben in verschlossenen Tuben eine Farbe? Im Dunkel unter dem Deckel? Die Farbe entsteht erst, wenn sie ans Licht
kommt: Sie ereignet sich. Die Malerin Petra Amerell setzt Farbe frei. Ihre Malerei handelt davon.
In der Geschichte der Malerei ist Farbe der gemeinsame Nenner aller Gemälde (in der Antike war sie es, die dem Bild Leben und Wahrheit verlieh). Ob Leonardo den
Mantel Jesu, Vermeer die Schürze eines Milchmädchens oder Matisse Das rote Zimmer malte, Picasso Guernica, Diebenkorn Ocean Park No 83 oder Newman Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau schuf: Alle
diese Arbeiten stammen aus der Wirklichkeit der Malerei. Sie haben mehr Gemeinsamkeit mit den von Degas gemalten Rennpferden als diese mit wirklichen Pferden in der Realität der Rennbahnen.
Malerei, das heißt immer Farbe auf einem Träger, Malerei, das heißt immer, die Fläche ist die Bühne für den Auftritt der Farbe.
Die Inszenierung von Farbe ist für Petra Amerell das zentrale Thema. Gestaltung und Farbauftrag, das ist das mit Kunstverstand gesteuerte Ereignis. Ihre Farben und
Bilder haben keine andere Körperlichkeit als die eigene und stellen nichts dar als sich selbst. Petra Amerell zeigt uns die Qualitäten der Farbe als physische Materie und als seelische
Substanz.
Ein Bild hängt sie ohne trennenden Rahmen an die Wand, Petra Amerell bezieht Wand und Raum ins Farbgeschehen ein. Die Farbbotschaft ist nach außen gerichtet (ins
Empfinden und Denken des Betrachters verlegt); wer sich mit so einem Bild beschäftigt, muss sich ihm aussetzen, seiner Kraft. Mit Körper und Geist (mit Haut und Haar),- Energie wird ausgetauscht,
alles ist im Fluss. Das Auge bewegt sich, das Licht wechselt (die Erde reist um die Sonne), die Farbe ist fluktuierend, immerzu instabil, zwischen Auge und Gehirn ist Bewegung, ein Strom, der
Körper geht mit, der Raum schwingt. Farbe ist durch und durch dynamisch, das beschreibt die Wirklichkeit des Sehens.
Wo auch immer ein Mensch die Augen öffnet: Er sieht Farben. Die sichtbare Welt ist primär ein Farbenfeld. Alles Sichtbare sehen wir in farbigen Zusammenhängen. Jedes
Ding, jedes Wesen. Wo aber beginnt ein Bild, wo beginnt die Malerei von Petra Amerell?
Bei den Materialien, den Werkzeugen, bei Bindemitteln und Farben (Pigmenten in Gläsern, Farben in Tuben), bei Spachteln und Pinseln und improvisierten Malgeräten,
bei Grundiermitteln und Leinwand. Petra Amerell schöpft wörtlich aus Eimern und Töpfen. Sie befördert Farbe auf Leinwand, das ist ein körperlicher Akt; sie gießt und tropft, sie spritzt und
streicht, sie schleudert, kratzt, sie schabt ab, trägt auf, beschichtet und belädt die Leinwand mit Farbmaterie, fortwährend in Bewegung auch sie, spielerisch, energisch, wütend, sicher, zögernd,
inspiriert, glücklich, hadernd, langsam, heftig, es ist ein Tanz: Schicht über Schicht entsteht das Bild aus der komplexen Bewegung heraus. Wenn es vorankommt, wenn das Farbgeschehen also
Fortschritte macht in Richtung Gelingen, wachsen Spritzer zu Flecken, kleine Flächen zu größeren Farbbereichen zusammen und diese werden zu ausgedehnten Farbzonen. Beim Malakt verdichtet sich das
Bild in dem Sinn, dass es einfacher wird, großflächiger, konzentrierter in seiner Farbenergie, klarer in seiner Gestaltung, ruhig (aber nicht beruhigt), bis es auf einen Blick erfassbar ist,
einleuchtend, und trifft, weil es sitzt. Ein Hieb. Ein Kraftstück. Eine Intensität. Ein Farbenfeld, dessen Ausdehnung auch lockende Tiefe verheißt und der Vision entspricht,
die bisher auch für die Künstlerin nur fühlbar, aber weder benennbar noch fassbar gewesen ist. Jetzt, wo diese Vision endlich sichtbar geworden ist, Bildkörper, Farbgestalt, bewirkt sie ein
Leuchten im Auge. Ein gutes Bild sieht am Ende immer so aus, als hätte es sich einfach ergeben.
Farbe und Gefühl sind so untrennbar wie Farbe und Sehen. Es gibt aktive Farben (die auf einen zukommen) und passive (die sich zurückziehen), es gibt Farben, die sich
ausdehnen und Farben, die sich zusammenziehen. Schnelle, langsame, schwere und leichte Farbe. Schreiende Farbe, aggressive Farbe und schmeichlerische. Frau und Mann wissen, dass sie in schwarzen
Kleidern schlanker wirken als in roten.
Malerei ist auch Selbstausdruck. Petra Amerell findet im Malakt unbewusste Bilder. Es geht gar nicht anders. Sie reißt sie aus dem Unbewussten heraus. Das ist so
unumstößlich und unumgänglich wie die Tatsache, dass der Mensch nicht nur farbig, sondern auch räumlich sieht. Das belegt die gleichsam determinierte Seite. Die andere Seite, die Freisetzung der
Farbe als solcher, gibt der Malerin die Chance, sich nicht vorwiegend oder gar ausschließlich mit sich selbst beschäftigen zu müssen. Petra Amerell untersucht auch die Natur und die Geheimnisse
der Farben, in diesem Anliegen ist sie eine sensible Forscherin. Sie stellt Farbe nicht in den Dienst einer Sache, benutzt sie nicht als Vehikel: Sie lässt Farbe Farbe sein. Sie ergründet ihr
Wesen, intuitiv und mit Experimenten, sie gewährt der Farbe Auslauf und Raum. Dafür bedankt sich die Farbe. Vielleicht so: Die farbigen Pigmente entfalten ihr verführerisches Potenzial. Lust auf
Farbe kommt ins Spiel. Petra Amerell unterliegt der Farbversuchung, ihre Malerei feiert die Verführung durch Farbe. Die Malerin selbst lässt sich von der Farbe hinreißen und versucht, auch uns
mit ihren Farbverwandlungen zu begeistern. Sie zieht uns in den Strudel hinein. Sie zieht uns in ihren und in den Bann der Farbe. Sie schlägt uns eine Anverwandlung der Farbe vor.
Weil Petra Amerell nie versucht, eine Farbe in eine statische Form zu pressen, sondern vom dynamischen Charakter der Farbe, von Bewegung und Tanz ausgeht, vor allem
weil sie das Unikat sucht und mit jedem Bild eine Neuschöpfung wagt, lehnt sie Konzepte ab. Es gibt in ihrem Nachdenken über Farben und Bilder keinen festen Bezugspunkt. Kein Schema.
Petra Amerell versucht vielmehr, die betonierte Vorstellungswelt zu verflüssigen und zu erweitern und alles Erstarrte aufzumischen. Sie führt uns vor, dass die Wirkung von Farbe auf Veränderung
beruht.
Ein Kreis ist ein Kreis. Er ist etwas Absolutes, man merkt es sofort, wenn er von der Form abweicht. Ein Kreis ist konzeptuell definiert. Aber ein Blau? Es gibt tausend Schattierungen von Blau; das gleiche Blau wird in jedem anderen Licht und Raum anders aufscheinen. Eine Farbe kann nie isoliert gesehen werden, darum weiß man niemals genau, was eine bestimmte Farbe als solche wirklich ist. Stoff und Erscheinung. Die Farbe bewahrt sich ihren Geheimnischarakter. Die Beschäftigung mit Petra Amerells Malerei belohnt einen nicht zuletzt mit der Erkenntnis, dass ihre Bilder das Geheimnis der Farben noch geheimnisvoller machen.